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Eine Lesung mit Edgar Hilsenrath in Neustrelitz
Gemeinschaftsveranstaltung von Kultur in Bewegung e.V. und der KOF


Der Autor Edgar Hilsenrath und sein Verleger Volker Dittrich lasen aus den Werken des Autors und sprachen über Leben und Werk Edgar Hilsenraths in der Alten Kachelofenfabrik Neustrelitz.
Was halten Sie von einem Schriftsteller, der in Deutschland ein Buch bei 60 Verlagen vorstellte und nur Ablehnungen bekam?
Oder interessiert sie mehr einer, der über eine Weltauflage von mehr als 5 Millionen Bücher verfügt, in 18 Sprachen übersetzt ist, in 22 Länder veröffentlicht und dessen Geschriebenes in Amerika zur Schulliteratur gehört und in England zu den „ underground classics“?
„ Ich bin verliebt in die deutsche Sprache“, antwortet Zibulsky auf die Frage, wer denn seine Geliebte sei. Und Zibulsky, Protagonist in Edgar Hilsenraths Satiresammlung „Zibulsky oder Antenne im Bauch“, ist ohne Zweifel der Autor selbst, der uns immer wieder erzählt hat, was die Sprache Döblins und Kafkas für ihn bedeutet, ihn, den Ghetto-Überlebenden, dessen literarisches Werk im deutschsprachigen Raum keinerlei Entsprechung hat.
Edgar Hilsenrath, der fast 83 Jahre alt ist, hat die erbarmungsloseste, kompromissloseste Shoa-Literatur geschaffen, die die deutsche Literatur kennt. Ein Roman wie „ Nacht“, sein Erstling, den Hilsenrath 1950 in Frankreich zu schreiben begann und in New York abschloss, konnte erst 1964 in einer Auflage von 1250 Exemplaren in Deutschland erscheinen- nicht weil er schlecht war, sondern weil er Ungeheuerliches erzählt, nicht von den Tätern, sondern den Opfern. Sie sind nicht sanft und edel, keine Vorzeigejuden. Im Elend des Ghettos werden sie zu reißenden Naturen.
Sein vielleicht populärstes Buch ist „ Der Nazi und der Friseur“, eine schwarze Satire über die Nazizeit und den Staat Israel. Ein „halbjüdischer“ Friseurgehilfe mausert sich im KZ zum emphatischen Anhänger Hitlers, wird Mitglied der SS und schlüpft nach dem Krieg in die Identität eines jüdischen Friseurs und Freundes namens Finkelstein, den er höchstpersönlich samt Familie umgebracht hat. Dann geht er nach Palästina, kämpft gegen die Engländer und wird zum Volkshelden.
Darf man das? Nazi-Satiren schreiben? In Deutschland?
(Vorschlag: Die Antwort gibt ein prominenter deutscher Kritiker seinerzeit im Herrenmenschen-Ton) Ein prominenter deutscher Kritiker urteilte seinerzeit in Herrenmenschen-Ton: „ So geht das nicht!“ Die Nachfolgegeneration der Täter wollte dem Opfer erklären, wie angemessenes Schreiben über die Shoa auszusehen habe. Schwärzester Humor ist das Markenzeichen Hilsenraths, ebenso wie Jurek Becker dieses Thema satirisch ins Wort bringen konnte.
Im Unterschied zu treudeutschen Kindheitsmustern wie u.a. gehäutete Butts oder Zwiebeln ist der 1993 erschienene Roman „Jossel Wassermanns Heimkehr“ kein Teil hiesigen Literaturgedächtnisses. Während des Abtransportes der Juden in den Viehwagons kommt es mit dem Wind zu folgendem Gespräch:
„Ja, du hast vollkommen recht. Die Gojim sind dumm. Sie plündern jetzt unsere Häuser und sie glauben, dass wir alles zurückgelassen haben, was wir besaßen. Dabei wissen sie nicht, dass wir das Beste mitgenommen haben.“
„Was ist das Beste?“, fragte der Wind.
Und der Rebbe antwortete: “Unsere Geschichte. Die haben wir mitgenommen.“
Und der Wind sagte: "Aber Rebbe. Das kann doch nicht sein. Die Geschichte der Schteteljuden ist zurückgeblieben."
„Nein“, sagte der Rebbe. „Du irrst dich. Nur die Spuren unserer Geschichte sind zurückgeblieben. Wir haben nur das Vergessen zurückgelassen, doch was wir mitgenommen haben, ist das Erinnern.“
Kaum bekannt ist es, dass Edgar Hilsenrath in Armenien, wie Franz Werfel, eine große Achtung genießt. Durch die Romane zweier Juden ist die Tragödie der Armenier in den Fokus der Weltöffentlichkeit geraten. Der Genozid an den Armeniern ist der Vorläufer des Holocaust. In „ Das Märchen vom letzten Gedanken“ gibt Hilsenrath Juden und Armeniern gleichsam eine Stimme der Erinnerung.
2003 ließ der Piper-Verlag Hilsenrath fallen. Offenbar wurde nicht genug verkauft. Kein Wunder, denn er arbeitete jenseits jeder TV- oder Literaturvermarktung.
Zum Glück konnte Edgar Hilsenrath in dem Verleger Volker Dittrich und in dem ihn seit vielen Jahren begleitenden Herausgeber Helmut Braun Partner finden, die eine Werkausgabe ermöglichten. Seit 2008 liegt diese im Dittrich-Verlag Berlin vollständig vor.
Der jüdische Schriftsteller Edgar Hilsenrath ist einer der größten deutschen Stilisten und Chronisten des 20. Jahrhunderts. Nur in Deutschland, dem Land einer Sprache, in die er sich nach eigenen Angaben „verliebt“ hat, kennt ihn nach wie vor kaum jemand. Das ist bezeichnend.